Wrack als Heim für Tiere: Die letzte Bestimmung der Thistlegorm (2024)

Im Zweiten Weltkrieg versenkten deutsche Bomber im Roten Meer ein britisches Frachtschiff voll mit militärischen Gütern. Heute ist es für Taucher ein Paradies – und für die bedrohte Tierwelt ein Refugium.

Patrick Imhasly

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Welche beeindruckende Karriere: Im Zweiten Weltkrieg transportierte der Frachter militärisches Material, um die britische 8.Armee in einer Grossoffensive gegen das deutsche Afrikakorps unter Erwin Rommel zu unterstützen. Heute ist das Wrack der «SS Thistlegorm» ein Hotspot für Taucherinnen und Taucher – und zugleich ein Paradies für Fische und Korallen, wie ein italienisches Forschungsteam jetzt in einer Studie festgestellt hat («Plos One»).

Am 9.April 1940 lief das Transportschiff in Grossbritannien vom Stapel. Aus den USA holte es Stahl und Flugzeugteile nach Europa, aus Argentinien transportierte es Getreide und aus der Karibik Rum. Seine vierte Reise sollte die letzte sein. Am 2.Juni 1941 brach die «Thistlegorm» in Glasgow auf – mit dem Ziel Alexandria in Ägypten. An Bord hatte das 128 Meter lange und 17 Meter hohe Schiff unter anderem Lastwagen, gepanzerte Fahrzeuge, Motorräder, Maschinengewehre, Munition für die alliierten Truppen sowie zwei Dampflokomotiven und mehrere Eisenbahnwagen, die für die ägyptischen Staatsbahnen bestimmt waren.

Um das gefährliche Mittelmeer zu vermeiden, nahm die «Thistlegorm» den langen Weg um das Kap der Guten Hoffnung auf sich. Es war geplant, den Suezkanal in einem Konvoi unter dem Schutz eines Kreuzers zu passieren. Doch bevor es dazu kam, schlugen zwei deutsche Heinkel-He-111-Bomber zu, die von Kreta aufgestiegen waren. In der Nacht auf den 6.Oktober 1941 griffen sie die «Thistlegorm» an, die zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Konvoi in der Nähe des Riffs Shaab Ali, etwa 40 Kilometer westlich von Sharm al-Sheikh, vor Anker lag. Zwei gewaltige Bomben trafen das Schiff im hinteren Teil und brachten es innert weniger Minuten zum Sinken. Neun Besatzungsmitglieder starben, die übrigen dreissig konnten von den umliegenden Schiffen gerettet werden.

Wrack als Heim für Tiere: Die letzte Bestimmung der Thistlegorm (2)

Nach dem Krieg geriet das Wrack, das in rund 30 Meter Tiefe auf sandigem Grund liegt, zunächst in Vergessenheit. 1955 wurde es vom französischen Tiefseeforscher Jacques-Yves Cousteau wiederentdeckt, nachdem ihn einheimische Fischer darauf aufmerksam gemacht hatten.

Wegen ihrer Zugänglichkeit in flachen Gewässern, ihres gut erhaltenen Zustands und natürlich ihrer abenteuerlichen Geschichte wurde die «Thistlegorm» ab den 1990er Jahren, als sich im südlichen Sinai der Massentourismus entwickelte, zu einem beliebten Ziel für Touristen. Seit dieser Zeit wird das Wrack jedes Jahr von bis zu 175000 Taucherinnen und Tauchern aus aller Welt besucht.

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Wer zur «Thistlegorm» absteigt, bekommt aber nicht nur ihre spektakuläre Ladung zu sehen, sondern auch eine grosse Vielfalt von Lebewesen. Taucht man durch die Laderäume des ehemaligen Frachters, fühlt sich das bisweilen an, als bewege man sich durch ein Korallenriff. Seit längerem weiss man, dass die vielfältigen Strukturen gesunkener Schiffe der Unterwasserwelt eine neue Heimstatt bieten können.

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Meeresbiologen um Erik Caroselli von der Universität Bologna haben nun das in den vergangenen 80 Jahren an der Thistlegorm entstandene Ökosystem genauer untersucht. Und sie kommen zum Schluss: «Die Thistlegorm ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie künstliche Korallenriffe eine Gemeinschaft aufrechterhalten können, die jener natürlicher Riffe sehr ähnlich ist.»

Um an eine möglichst grosse Menge an Daten zu kommen, hat das Team von Caroselli mit Freizeittauchern zusammengearbeitet. Sie dokumentierten zwischen 2007 und 2014 jeden ihrer Tauchgänge und hielten gemäss einem vorgegebenen Muster fest, welche Tierarten sie zu sehen bekamen. Kontrolltauchgänge der Profis ergaben, dass diese Art von Datenerhebung zuverlässig war. Als Massstab galt eine Liste von Tierarten oder Tiergruppen, die für die Korallenriffe im Roten Meer typisch sind. Darunter befanden sich zum Beispiel Weichkorallen, die Riesenmuräne, Husarenfische, Fledermausfische, Anemonenfische oder der majestätische Napoleon-Lippfisch.

Über die acht Jahre der Untersuchung zeigte sich, dass von den 72 untersuchten Tiergruppen 71 tatsächlich auf der «Thistlegorm» vorkamen. Einzig der Mantarochen, der seine Bahnen wie eine riesige Fledermaus durch das Meer zieht, liess sich beim Wrack aus dem Zweiten Weltkrieg nicht sichten. Die Lebensgemeinschaft an der «Thistlegorm» habe sich über die Zeit als sehr stabil erwiesen, schreiben die italienischen Forscher in ihrer Studie. «Das macht dieses künstliche Riff zu einem vielversprechenden Refugium für das Rote Meer.»

Selbst im natürlicherweise relativ warmen Roten Meer sind die Korallenriffe mit ihrer überragenden Vielfalt von tödlichen Bleichen bedroht, wenn die Wassertemperaturen weiter steigen. Da kommt ein Wrack wie die «Thistlegorm» in einer Tiefe, in der häufig kühlere Strömungen auftreten, als Rückszugsgebiet besonders gelegen.

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